Nur zwei Regionen in Thüringen haben sich für das Optionsmodell zur Umsetzung von Hartz IV beworben: Der Althaus-Landkreis Eichsfeld und die FDP-Hochburg Jena. Die Gründe sind einfach: Arbeitslose werden von den Kommunen selbst vermittelt. Die überforderte Bundesagentur für Arbeit kann damit nicht nur entlastet werden, sondern erhält erfrischenden Wettbewerb. Die Kommunen können sich gleichberechtigt und in eigenständiger Trägerschaft vor Ort um die Menschen kümmern, die Arbeit suchen.
Aber gegen diese Form der kommunalen Freiheit formiert sich bereits aus bekannten Kreisen Widerstand. Thüringens DGB-Vorsitzender Frank Spieth bezeichnete das Modell als "ausgesprochen gefährlich". Jena übernehme sich hoffnungslos und würde eine Sicherstellung der nötigen Arbeitsplätze nicht gewährleisten können.
Jenas FDP-Oberbürgermeister Röhlinger hat indes die Hartz IV-Umsetzung zur Chefsache erklärt. Er sieht den städtischen Eigenbetrieb "jenarbeit" als Chance, Sozialhilfeempfänger wieder in den ersten Arbeitsmarkt einzugliedern. Gerade im Alten- und Krankenpflegebereich sei das Modell hervorragend geeignet, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen und reguläres Personal zu entlasten. Ein gesunder Wettbewerb mit der Bundesagentur für Arbeit führe darüber hinaus zu nachhaltigen Synergieeffekten und höheren Vermittlungen offener Stellen, argumentiert der FDP-Oberbürgermeister. Im TLZ-Interview hob Röhlinger hervor, dass hinter jedem so genanntem Fall ein Mensch stehe: "Viele wollen arbeiten, wir wollen helfen."
Das vollständige Interview:
Vertrauen muss sich entwickeln
Interview der TLZ- Redakteurin Rita Specht mit Oberbürgermeister Peter Röhlinger
zur Gründung des Eigenbetriebes "Jenarbeit"
TLZ: "Jenarbeit" - diesen Arbeitstitel für den neuen städtischen Eigenbetrieb, der das Optionsmodell umsetzen soll, gibt es schon. Aber wie weit ist die Arbeit?
Am Mittwoch habe Sozialamtsleiter Ralf Kühmstedt zum kommissarischen Leiter des neuen städtischen Eigenbetriebes in Gründung "Jenarbeit" bestellt und den Hauptausschuss der Stadt darüber informiert. Ralf Kühmstedts Stellvertreter Peter Schweinitz wird das Sozialamt leiten. Das muss nun noch vom Stadtrat bestätigt werden. Beim Neuaufbau können wir uns an den guten Erfahrungen beispielsweise des Kommunalen Eigenbetriebs Immobilien Jena orientieren . Wichtig ist: Ab 1. Januar müssen wir arbeitsfähig sein.
TLZ: Ist vorgesehen, die Stelle des Eigenbetriebsleiters später auszuschreiben ?
Ja. Doch jetzt gehen wir davon aus, dass Ralf Kühmstedt die Aufbauarbeit erledigt. Vielleicht bewirbt er sich ja mal auf Dauer, vielleicht geht er auch wieder auf seinen Amtsleiterposten zurück.
TLZ: Mit wieviel zu betreuenden Menschen rechnen Sie?
Mit etwa 3800 so genannten Bedarfsgemeinschaften, wobei das Wort unglücklich ist. Es ist ein Begriff aus dem Sozialgesetzbuch und bezeichnet alle Personen, die mit einem Leistungsbezieher leben, also Mutter allein mit Kind, Enkel, der mit Oma zusammenlebt, Mutter, Vater, und so weiter.
TLZ: 3800 plus XXL Schicksale, ein großes Risiko.
Wir wissen das. Doch ich würde dieses Risiko nicht eingehen, wenn ich nicht wüsste, dass die Verwaltungsspitze und die Mitarbeiter voll hinter der Aufgabe stehen. Zudem haben wir ausgezeichnete Verbindungen zu Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, beispielsweise der AWO, Busch und Partner, der Euro-Schule. Die Überbetriebliche Ausbildungsgesellschaft kümmert sich vorwiegend um Benachteiligte, Busch vorwiegend um Akademiker - die nehmen sich keine Arbeit weg.
TLZ: Stehen die Stadträte weiter hinter dem Modell?
Der Stadtratsbeschluss vom 7. Juli, Jena als Modellstadt anzumelden, hat uns den Rücken gestärkt, auch wenn bei der Umsetzung die Meinungen auseinander. Die PDS organisiert ja mittlerweile Demonstrationen gegen Hartz IV mit. Andererseits sagt Stadträtin Karin Kaschuba, dass sie zwar Hartz IV nicht gut findet, aber befürwortet, dass Jena sich selbst kümmert. Vom Inhalt her hat das Thema absolute Priorität. Dem müssen sich die Stadträte stellen, egal, in welcher Koalition sie sich zusammenfinden.
TLZ: Auch dann, wenn eine neue Koalition einen vierten Dezernenten bestellt?
Das Thema hat Priorität, auch dann. Andererseits: Ich verstehe Hartz IV nicht so, dass wir zusätzliche Arbeitsplätze in Spitzenpositionen schaffen. Zumal dann nicht, wenn zu erwarten ist, dass sich die Einwohnerzahl Jenas nicht lange über 100 000er Grenze hält und wir den Anspruch verlieren,
TLZ: Wohin werden die künftigen Leistungsbezieher des Eigenbetriebes "jenarbeit" gehen am 1. Januar 2005?
Mit Hilfe unseres Eigenbetriebes Kommunale Immobilien suchen wir gerade nach einem preisgünstigen Ort. Eine Entscheidung ist noch nicht getroffen.
TLZ: Wer wird die Arbeit bei "jenarbeit" erledigen?
Beabsichtigt ist, dass das komplette Sachgebiet Sozialhilfe, das sind 16 Stellen, zu "jenarbeit" wechselt. Darüber hinaus wollen wir Leute entsprechend der Größenordnung der zu bearbeitenden Fälle einstellen. Wir gehen von etwa 48 Personen aus, die wir in einer ersten Aufbaustufe brauchen. Darin sind die 16 eingeschlossen. Ein Teil zahlt das Geld aus und verwaltet es. Dann wird Fallmanager geben, die sich um die betroffenen Personen und deren Familien kümmern. Sie hinterfragen, wieviel Menschen im Haushalt leben, wie viel Miete gezahlt wird, hinterfragen das soziale Umfeld des Anspruchsberechtigten. Und dann soll es qualifizierte Fallmanager geben, die sich um Vermittlung in Arbeit kümmern.
TLZ: Bedeutet das Neueinstellungen?
Ja, wenn wir das Modell endgültig genehmigt bekommen - am 15. September fällt diese letzte Entscheidung, ist es auf sechs Jahre angelegt. Für diesen Zeitpunkt werden wir dann befristet Stellen ausschreiben.
TLZ: Wieviel Geld steht Jena zur Verfügung?
Genau kann man das noch nicht sagen. Aber nach Hochrechnungen des Städte- und Gemeindebundes könnte die Summe bei rund 8 Millionen Euro Eingliederungshilfe 2005 liegen, für Personal- und Sachkosten ca. 4 Millionen Euro. Gesichert sind die Summen jedoch noch nicht.
Gretchenfrage wird sein: Gibt es Arbeitsstellen?
Die Wohlfahrtsverbände in "Deutschland haben signalisiert, allein 300 000 Stellenschaffen zu wollen. Drei Beispiele für Arbeitsmöglichkeiten: 1. Altenheime. Gebraucht werden Menschen, die den Älteren vorlesen, mit ihnen singen, spazieren gehen. Die nehmen niemandem Arbeit weg, und die Heime selbst haben kein Geld mehr dafür, Tariflohn dafür zu zahlen. 2. Kinder- und Jugendbetreuung.. Vereine haben oft kein Geld mehr, z.B. Übungsleiter zu finanzieren. Da bricht etwas weg. Das werden keine Vollzeitjobs sein, aber Jobs am Nachmittag, am Wochenende. 3. Im Gespräch mit der Wirtschaft kam die Idee auf, zum Beispiel Auszubildende, die durch die Prüfung fallen, aufzunehmen. In dem Jahr, in dem sie einen neuen Anlauf machen, können sie bei Unternehmen unterkommen in bezahlte Praktik. Damit rutschen sie nicht weg,, und auch das Autohaus hat etwas davon. Das sind Arbeiten im Niedriglohnbereich, klar. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass im High-Tech-Bereich neue Arbeitsplätze auf dem 1. Arbeitsmarkt entstehen.
TLZ: Könnte es passieren, dass Jena in Konkurrenz zum Saale-Holzlandkreis tritt, der ja mit der Arbeitsagentur eine Arbeitsgemeinschaft gründete, um Betroffene in Arbeit zu bringen?
Wir sehen unsere Aufgaben auch regional. Uns ist nicht daran gelegen, dass die Landkreise schlechte Ermittlungsergebnisse haben. Wir gehen eher von Synergieeffekten aus und suchen ein vernünftiges Verhältnis
zur Arbeitsagentur.
TLZ: Was sagen Sie den Vertretern der Privatwirtschaft, die sich sorgen, dass ihnen Hartz IV Arbeit wegnimmt?
Um dem entgegen zu treten, wollen wir Beiräte einsetzen, mit Mitgliedern der Handwerkskammer, der IHK und anderen., die uns auf die Finger schauen. Wir wollen das Beste herausholen - für alle. Und wir wollen verhindern, dass schwarze Schafe uns den Erfolg kaputt machen. Im geförderten Bereich, soweit ist sicher, werden wir der freien Wirtschaft keinen Auftrag wegnehmen.
TLZ: Wie wichtig ist Ihnen persönlich die Herausforderung, Hartz IV in Jena umzusetzen?
Hinter jedem so genannten Fall Steht ein Mensch. Ich habe mir persönlich vorgenommen, einen Jenaer durch die Instanzen der "jenarbeit" zu begleiten. Er schrieb mir einen Brief, der viele pauschale Verunglimpfungen von Hartz IV enthält. Ich will es konkret wissen, und ich empfehle Betroffenen, die Verwaltung nicht zu blockieren, sondern auf sie zuzugehen. Ich möchte die Leute ermutigen, auf uns zuzukommen: Viele wollen arbeiten, wir wollen helfen.
TLZ: Wie lang wird Hartz IV noch ein Reizwort bleiben?
Ich gehe davon aus, dass sich nach den Wahlen in Brandenburg und Sachsen wieder mehr Vernunft durchsetzt. Wir müssen jetzt konstruktiv arbeiten, und es muss sich wieder mehr Vertrauen entwickeln.